Alternativen zu Brünings Politik aus: Bundeszentrale für politische Bildung Heft "Weimarer Republik" Die Deflationspolitik der Jahre 1930 bis 1932 wird in der Geschichtsforschung kontrovers beurteilt. Der Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt vertritt die Ansicht, dass Brüning unter den damaligen Bedingungen keine wesentlich andere Finanz- und Wirtschaftspolitik hätte betreiben können. Er argumentiert im Kern folgendermaßen: Die deutsche Wirtschaft befand sich schon vor 1929 infolge zu hoher Löhne, Steuern, Rohstoffpreise und Kreditkosten in einer Strukturkrise, die 1930 bis 1932 zunächst (wie von Brüning versucht) bereinigt werden musste, bevor an eine aktive Konjunkturpolitik zu denken war. Zur Zeit der Kanzlerschaft Brünings war die mit dem Namen des britischen Wirtschaftswissenschaftlers John Maynard Keynes verbundene Theorie der "antizyklischen Wirtschaftspolitik" und des "deficit spending" (bei sinkender privater Nachfrage müsse der Staat mit kreditfinanzierten Aufträgen einspringen, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln) noch nicht ausreichend entwickelt und bekannt. Die strengen Vorschriften des Reichsbankgesetzes und des Young-Planes erlaubten weder eine Kreditausweitung noch eine Abwertung der Reichsmark als konjunkturbelebende Maßnahmen. Für eine Abwertung der Reichsmark und für ein "deficit spending" gab es damals bei Parteien und Verbänden wegen der verbreiteten Inflationsfurcht keine ausreichende Unterstützung. Demgegenüber hat die Historikerin Ursula Büttner nachgewiesen, dass es sehr wohl Alternativen zur Deflationspolitik gegeben hat. Ihre Einwände gegen Borchardts Argumentation lauten zusammengefasst so: Die schon vor 1929 entstandenen Strukturprobleme waren in einer wachsenden Wirtschaft sicher leichter zu lösen als in einer schrumpfenden. Am erforderlichen Know-how für eine aktive Konjunkturpolitik fehlte es durchaus nicht. Keynes erläuterte 1930/32 in Deutschland in einer Reihe von Vorträgen und Zeitungsartikeln seine bereits ausgereifte Theorie der antizyklischen Wirtschaftspolitik und stieß dabei auf großen Widerhall. So legte der Oberregierungsrat im Wirtschaftsministerium Wilhelm Lautenbach im September 1931 einen an Keynes orientierten Plan zur Ankurbelung der Wirtschaft (ohne inflatorische Auswirkungen) mittels kreditfinanzierter Staatsaufträge in Höhe von drei Milliarden RM vor. Hans Schäffer, Staatssekretär im Finanzministerium, befürwortete den Lautenbach-Plan in seiner Denkschrift vom September 1931 nachdrücklich. Ernst Wagemann, Leiter des Statistischen Reichsamtes und des Instituts für Konjunkturforschung, veröffentlichte im Januar 1932 in hoher Auflage einen eigenen Plan zur Erhöhung des staatlichen Kreditrahmens um bis zu drei Milliarden RM für die Konjunkturbelebung. In der Krise des Sommers 1931 verloren das Reichsbankgesetz und der Young-Plan an Bedeutung, da sie ohnehin nicht mehr einzuhalten waren. Die Vertragspartner hätten sich mit einer geringeren Deckung der Reichsmark abgefunden, deren Abwertung nach britischem Vorbild im Ausland allgemein erwartet wurde. Der Wunsch nach einer Bekämpfung der Wirtschaftskrise mit den Mitteln der Finanz- und Geldpolitik breitete sich seit Herbst 1931 so stark aus, daß entsprechende Maßnahmen der Regierung - trotz der ablehnenden Haltung der Unternehmerverbände und der Parteiführungen - in der Bevölkerung breite Unterstützung gefunden hätten.
Ein klares Indiz dafür ist insbesondere der vom ADGB im April 1932 beschlossene sog. WTB-Plan (benannt nach seinen Verfassern Wladimir Woytinski, Fritz Tarnow und Fritz Baade). Das Konzept sah vor, rund 1 Million Arbeitslose mit öffentlichen Arbeiten zu beschäftigen; die dafür erforderlichen 2 Milliarden RM sollte der Staat durch Kredite aufbringen. Weil sich die Ausgaben für die Arbeitslosen entsprechend verringern, die Steuereinnahmen erhöhen würden, veranschlagte man die realen Kosten auf 1,2 Milliarden RM. Der WTB-Plan zielte auf eine Wiederbelebung der Konsumgüterindustrie mit weiteren positiven Beschäftigungseffekten, so dass eine inflatorische Wirkung vermieden würde. Die SPD-Führung lehnte jedoch eine Kreditfinanzierung ab, weil sie davon eine Inflation, nach den Erfahrungen von 1923 zumindest eine neuerliche Inflationsfurcht in der Bevölkerung erwartete. Wie Schäffer am 29. Januar 1932 in seinem Tagebuch festhielt, empörte sich der Kanzler besonders über Wagemann: 1. erwecke Wagemann den Gewerkschaften gegenüber den Eindruck, "als ob es noch andere Mittel gebe als die Deflationspolitik, um unsere Lage zu bessern". 2. könnten Wagemanns Vorschläge "in das Reparationsprogramm hineinhageln". 3. sei zu befürchten, daß die Nationalsozialisten, die "bisher vergeblich nach einem Währungsprogramm gesucht hätten", Wagemanns Plan übernehmen und daraus politische Vorteile ziehen würden.
Zusammenfassung R. Sturm nach: Knut Borchardt, Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Wirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre. In: Michael Stürmer (Hg.), Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas. Königstein/Ts. 1980, S. 318 bis 339. - Ursula Büttner, Politische Alternativen zum Brüningschen Deflationskurs. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 37 (1989), H. 2, S. 209-251. |